Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger im Juni 1914 Jahren gilt als Auslöser des Ersten Weltkriegs. Die Analysen im aktuellen Gedenkjahr widmen sich nicht nur dem „Großen Krieg“ und seiner Vorgeschichte. Es werden auch beunruhigende Parallelen zur heutigen Zeit gezogen. „Unsere Gegenwart scheint immer mehr der Wirklichkeit von 1914 zu ähneln“, sagt Christopher Clark, Historiker aus Cambridge und Autor des Bestsellers „Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“, in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazin „Forschung Frankfurt“. In dem Interview spricht der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler zudem über seine Art, Geschichte zu erzählen, das öffentliche Interesse an seiner Person und seine Verbundenheit mit der Goethe-Universität.

Die Erinnerung habe, sagt Christopher Clark, eine „wellenförmige Struktur“. Manchmal erscheine uns ein Punkt in der Vergangenheit besonders nah. „Und das ist ja bei 1914 sehr stark zu beobachten. Das Jahr 1914 war uns in den 1970er und 1980er Jahren viel ferner, als es jetzt ist“, so Clark in dem Gespräch mit „Forschung Frankfurt“: „Wir sind jetzt in einer multipolaren Welt, vieles ist unvorhersehbar und gefährlich, es gibt Regionalkrisen in verschiedenen Weltteilen, in die auch Weltmachtinteressen verstrickt sind. Da spricht uns die Situation von 1914 viel intimer und direkter an als beispielsweise in der Zeit des kalten Krieges.“

Christopher Clark hatte nach eigener Aussage nach Erscheinen seines jüngsten Buchs nicht mit einem so großen Interesse an seiner Person gerechnet. Auch die vieldiskutierten Parallelen zwischen dem Sommer 1914 und den aktuellen Krisen machen ihn in diesen Monaten zu einem vielgefragten Mann – bei Lesungen, Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und auch in Talkshows. Manchmal, so räumt er ein, werde er dabei schon fast „der eigenen Stimme müde“. Auf der anderen Seite finde er es interessant, „über Themen, die mich beruflich als Historiker interessieren, für eine breitere Öffentlichkeit zu sprechen“. Es gehöre auch zu seinen Verpflichtungen als Wissenschaftler, „die Öffentlichkeit in unsere Gespräche, in unsere Gedankengänge, soweit es möglich ist, mit einzubeziehen. Ich habe momentan in besonderem Maße die Gelegenheit, das zu tun, auf eine unvorhergesehene und unverhoffte Weise“.

Clarks Bücher, so auch das aktuelle, werden dafür gelobt, dass sie über die Fachgrenzen hinaus wirkten und in ihrer sprachlichen Gestaltung vorbildhaft seien. Um einerseits eine breitere geschichtsinteressierte Öffentlichkeit zu erreichen und andererseits der Komplexität des Themas gerecht zu werden, müsse man „sehr viel Mühe und Nachdenken auf die Gestaltung des Stoffes verwenden“. Verständlich schreiben, so der Historiker, mache sehr viel Arbeit. „Und der narrative Stil, der meist für solche Werke verwendet wird, ist eben nicht unanalytisch, sondern Narrative können auch sehr viel an Analyse mitliefern, wenn es reflektierte und subtile Narrative sind.“ Auch der Beschreibung der historischen Figuren widmet Clark eine hohe Aufmerksamkeit. „Solche Charakterisierungen sind wichtig, weil Kriege eben nicht durch anonyme, abstrakte historische Kräfte herbeigeführt werden.“ Für oder gegen Kriege entscheide man sich. „Und diese Entscheidungen fallen, weil Staatsmenschen, in diesem Fall Staatsmänner, sie fällen.“

Nach Ansicht Clarks tragen die europäischen Mächte und ihre Eliten eine gemeinsame Verantwortung für den Ausbruch des Krieges. Jenseits der Schuldfrage versucht der Historiker in seinem Buch zu rekonstruieren, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Diese Wie-Frage sei zwar nicht neu, „die Dominanz der Schuldthese“ habe sie allerdings eine Zeitlang in den Hintergrund gedrängt. Vielleicht könne man deshalb, so Clark, in seinem Fall „anstatt von neu von ‚frisch’ sprechen“. Bei einer „so reifen Debatte, die schon so viele begabte Geister beschäftigt“ habe, gebe es keine radikalen Neuauswertungen. Gleichwohl sei „unser Bild der damaligen Zeit im Wandel begriffen“. Die historischen Forschungen sieht er als ein „kollektives Unternehmen“, das mache „man nicht alleine“. Es sei „ein bisschen so, wie bei den Naturwissenschaften: Die ganze Zunft ist ein riesiges Team – wenngleich manchmal schon sehr zerstritten untereinander“.

In einem regen und fruchtbaren Austausch steht Clark schon seit einiger Zeit mit Wissenschaftlern und Forschungseinrichtungen der Goethe-Universität. Auf Einladung des Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ war er vor rund fünf Jahren der erste Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften, das damals in Bad Homburg seine wissenschaftliche Arbeit aufgenommen hat. Im Mai gehörte er zu den Fellows des neu ins Leben gerufenen Historischen Kollegs im Forschungskolleg Humanwissenschaften – und war gleichzeitig Gastwissenschaftler des Exzellenzclusters, in dessen Forschungszusammenhang er in Frankfurt auftrat. Auf Einladung des Clusters hielt Clark auch seinen Vortrag im Rahmen des Jubiläumsprogramms „100 Jahre Goethe-Universität“. Das Historische Kolleg ist eine neue Programmlinie des Forschungskollegs Humanwissenschaften in Kooperation mit dem Historischen Seminar der Universität. Das Thema zum Auftakt des zunächst auf fünf Jahre angelegten Projekts lautet „Die Welt um 1914“.